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Von Beethoven inspiriert, vom Ehrgeiz getrieben

Im Duell der Töne: Ein Tag im Wettbewerbsleben von Zhouhui Shen

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Donnerstagmorgen, die Uhr zeigt acht. Der Klavierdeckel öffnet sich behutsam, und in der Luft entfaltet sich ein Hauch von Beethoven. Sanft gleiten Zhouhuis Finger über die Klaviatur und erwecken den Raum für die nächsten zwei Stunden zum Leben. „Wenn sie am Klavier sitzt, vergisst sie alles“, verrät der Gastvater im Gespräch. Mit der Begeisterung ist er keinesfalls allein. Nicht ohne Grund startet die junge Pianistin als Finalistin gemeinsam mit Lovre Marušić und Caleb Borick in das Kammermusikfinale, die letzte Hälfte der International Telekom Beethoven Competition Bonn 2023. Viel Schlaf blieb ihr nach der Entscheidung der Jury im Semifinale nicht. Die 22-Jährige gibt zu: „Vier Stunden Schlaf, nicht mehr und nicht weniger.

Nach dieser Nachricht konnte ich einfach kein Auge mehr zu machen. Damit habe ich nicht gerechnet!“ Dabei legte ihre Mutter ihr Beethoven schon bei der Geburt mit in die Wiege. Gerade frisch geboren und die Fünfte Sinfonie Beethovens schon im Ohr. Seither begleitet der Komponist die Pianistin durch ihr ganzes Leben und inspiriert sie auf einzigartige Weise: „Seine Kompositionen sprechen direkt mit meiner Seele.“

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Doch so inspirierend Beethoven Zhouhui Shen auch beflügelt, im Gespräch mit der jungen Pianistin wird schnell deutlich: Dieser Wettbewerb verlangt einiges ab. Der Terminplan der aufstrebenden Pianist*innen ist bis zum Rand gefüllt. Viel Zeit für Freizeit bleibt da nicht. An erster Stelle steht das unermüdliche Spiel auf den Tasten. Schon seit März spielt Shen ihr Repertoire rauf und runter. Bei den anspruchsvollen Stücken kommt man locker auf über acht Stunden pro Tag, so Shen. Innerhalb von fünf Tagen schütteln die Teilnehmer*innen ein zweieinhalbstündiges Repertoire aus dem Ärmel. Allein die zweite Runde und das Semifinale durchliefen die Teilnehmenden innerhalb von zwei Tagen. Shen gibt zu: Mittlerweile mischt sich unter die Nervosität vor der ersten Runde auch eine Spur Erschöpfung. Abseits der Klavierklänge warten zudem einige Interviews auf die Pianist*innen. Auch auf dieser Bühne muss der richtige Ton getroffen werden, denn jedes Interview bietet den Künstler*innen eine neue Gelegenheit, nicht nur ihre Musik, sondern auch ihre Geschichte und Persönlichkeit zu präsentieren. Und so sitzt Zhouhui Shen um 14 Uhr am Steinway-Flügel des Beethoven-Hauses und gibt eine kleine Kostprobe, bevor sie sich für ein Portraitfoto umzieht. Nach dem Fotoshooting heißt es, ab ins Rampenlicht. Diesmal allerdings nicht vor das Klavier, sondern vor die Videokamera. Shen erzählt von Lampenfieber, ihrer Liebe zu Beethoven und ihrem Ritual vor den Bühnenauftritten. Ihr Geheimnis für die perfekte Performance? Die 22-Jährige schwört auf einen kurzen Nap und einem bananig-schokoladigen Snack für die Energie. Und die braucht sie, denn Beethoven erfordert viel Kraft, so die zierliche Pianistin: „Ich bin tatsächlich sehr dünn, weswegen es doppelt so schwer für mich ist, Beethovens Musik zu spielen. Aber ich habe seine Musik immer im Kopf und im Herzen.“, erklärt sie.

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Bevor es für die aufstrebende Künstlerin weiter zur Generalprobe des Kammermusikkonzertes geht, schenkt sie mir noch ein paar Minuten ihrer Aufmerksamkeit. Gemeinsam plaudern wir über ihre Zeit in Bonn, ihre Zukunftspläne nach dem Wettbewerb und ihr Leben abseits des Wettbewerbs. Im Gespräch erfahre ich: Als großer Beethoven-Fan konnte Zhouhui Shen noch vor der ersten Runde nicht auf einen Besuch des Beethoven-Hauses verzichten. Schmunzelnd fügt sie hinzu: „Wäre es möglich, Beethoven noch einmal in Person zu treffen, würde ich ihn wahrscheinlich auf einen Spaziergang in einen wunderschönen Garten begleiten. So wie ich gehört habe, liebte er Spaziergänge.“ Sie ist sich sicher: Die Atmosphäre Bonns wird sie nach definitiv vermissen, schließlich ist Bonn die Geburtsstadt Beethovens. Nach der Abreise geht es allerdings nicht nach China, sondern zurück nach New York, in die Vereinigten Staaten. Dort studiert die 22-Jährige an der renommierten Julliard School unter Prof. Hung-Kuan Chen. In die Heimat China fährt Shen nur im Sommer, um Klavierkonzerte zu geben, zu reisen und sich gelegentlich mit alten Freunden auf einen Hot Pot, eine Art Brühfondue, zu treffen. Was sich für Zhouhui Shen nach dem Wettbewerb verändern wird? Viel. Vor dem Wettbewerb war ihr größter Traum, Klavierlehrerin zu werden. Doch mittlerweile ist der talentierten Künstlerin klar: So schnell wird sie das Rampenlicht und die Bühne nicht verlassen wollen. Bevor der Vorhang für diesen Tag endgültig fällt, gewährt Shen einen Einblick in ihre Beziehung zum Lampenfieber. Ebenso wie ihre beiden Mitstreiter kämpft auch sie mit dem allbekannten Herzklopfen vor dem Auftritt: „Obwohl ich äußerlich immer ruhig wirke, tobt innen drin ein Sturm.“ Shen scheint nicht nur das Klavier zu meistern wie sonst keine, sondern auch die Kunst der Selbstbeherrschung.

Am Abend des Kammermusikfinales ist von Lampenfieber keine Spur zu sehen. Erst allein und später gemeinsam mit Mikhail Ovrutsky (Violine) und Grigory Alumyan (Violoncello) als Trio versetzt sie den Saal in fasziniertes Schweigen. Unter dem strahlenden Licht der Scheinwerfer gleiten ihre Finger mal zart über die Klaviatur, mal springen sie tanzend zwischen den einzelnen Tasten hin und her. Ihr Körper wiegt sich gefühlvoll mit dem Takt der Musik, erst zu der Komposition „Jasmine Flower Fantasia“ von Wang Hua Chu, später zu dem Klaviertrio D-Dur op.70/1 von Ludwig van Beethoven. Unter ihrer Devise „Time for me to shine and play my music“ verzaubert Shen das Publikum für die nächsten 40 Minuten und erfüllt den Raum mit einem ganzen Repertoire an Klängen und Melodien. Als die letzten Töne verklingen, bricht tosender Applaus aus. Zhouhui Shen verbeugt sich gemeinsam mit Ovrutsky und Alumyan. Für diesen Abend hat die Pianistin ihre letzte Melodie erklingen lassen. Samstag wird es dafür umso ernster: Ein letztes Mal hauen die drei Finalisten im großen Orchesterfinale in die Tasten.

Text: Lisa Brinker